Wir müssen alles tun, um Putin zu stören - Irina Scherbakowa im Interview

Shownotes

Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa zu Gast im Podcast der Caritas Dortmund.

Irina Scherbakowa, 1949 in Moskau geboren, ist promovierte Germanistin und Kulturwissenschaftlerin. Sie ist Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und in Russland inzwischen verboten wurde. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Irina Scherbakowa ihr Heimatland verlassen und ist nach Deutschland ins Exil gegangen. Wir haben uns zum Interview in der Lobby eines Dortmunder Hotels getroffen. Ich spreche mit Irina Scherbakowa über die Entwicklung in Russland, den Krieg in der Ukraine und das ein Frieden mit Putin wohl völlig unmöglich ist.

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Wir müssen alles tun, um Putin zu stören – Interview mit Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa

“Tach auch, der Pottcast der Caritas Dortmund. Tach auch und herzlich willkommen zu einer neuen Podcast-Folge. Mein Name ist Henning Schreiber.

Mein heutiger Gast ist die russische Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa. Irina Scherbakowa, 1949 in Moskau geboren, ist promovierte Germanistin und Kulturwissenschaftlerin. Sie ist Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und in Russland inzwischen verboten wurde.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Irina Scherbakowa ihr Heimatland verlassen und ist nach Deutschland ins Exil gegangen. Wir haben uns zum Interview in der Lobby eines Dortmunder Hotels getroffen. Ich spreche mit Irina Scherbakowa über die Entwicklung in Russland, den Krieg in der Ukraine und dass ein Frieden mit Putin wohl völlig unmöglich sein wird.

Henning Schreiber: Frau Dr. Scherbakowa, glauben Sie, dass es mit Putin oder mit Putins Russland jemals Frieden geben wird?

Irina Scherbakowa: Nein, das glaube ich nicht. Zeitweilig kann es vielleicht zu einem Abkommen kommen, aber ich glaube nicht, dass es einen dauerhaften Frieden geben kann, einfach aus dem einfachen Grund, weil Putin seine Doktrin dahin gebracht hat, dass er nicht stoppen wird. Und der Krieg ist eigentlich, würde ich sagen, seine Existenz oder die Existenz seines Regimes.

Henning Schreiber: Weil Putin befürchtet, dass er erledigt ist, sobald der Krieg vorbei ist?

Irina Scherbakowa: Ich weiß nicht, inwieweit man beim heutigen Russland und mit dem, was Putin aufgebaut hat, von erledigt sprechen kann. Aber auch, wenn dieser Krieg zu keinem eindeutigen Sieg führen wird, so wird man es dennoch als einen Sieg ausgeben, ganz egal, wie es endet. Aber wenn es viele Verluste und hohe Kosten kann es für ihn bedeuten, dass die Mehrzahl ihn nicht unterstützt.

Henning Schreiber: Muss man befürchten, dass er auch noch nach anderen Ländern greifen wird?”

Irina Scherbakowa: So viel Kraft hat er momentan nicht, dass er direkt andere Länder angreift, aber ich glaube, man muss ziemlich ernst nehmen, was er sagt. Da sind die ganze Zeit Drohungen gegen den Westen und wir haben an der ukrainischen Geschichte gesehen, dass man diese Drohungen ernst nehmen muss. Man hat ja immer wieder gesagt, vielleicht den Donbass, aber es ist doch nicht vorstellbar, dass er die gesamte Ukraine angreift oder Kiew. Man hat sich getäuscht und deshalb muss man seine Warnungen ernst nehmen. Natürlich ist da immer Erpressung dabei.

Ich bin zum Beispiel überzeugt, dass dieses Gerede von den Atomwaffen eine Wende ist. Man hat jahrzehntelang in der Vorstellung gelebt, dass Atomwaffen eher dazu dienen, dass es von beiden Seiten zu keinem Krieg kommt. Jetzt kommen die Drohungen von ihm und von seinen Propagandisten, um dem Westen Angst zu machen und die Ukraine irgendwie dazu zu erpressen, dass man den Frieden schließt oder zumindest ein Abkommen. Man muss diese Drohungen wirklich ernst nehmen, und es fällt mir schwer, das zu sagen, da Abrüstung die Idee meiner Generation war sowie das Ende des Kalten Krieges. Aber der Westen muss das ernst nehmen, und solange Putin an der Macht ist, aufrüsten.

Henning Schreiber: Wie konnte es in Russland überhaupt so weit kommen? Man hatte ja in den 90ern eigentlich das Gefühl, man sei auf dem Weg in eine Demokratie. Wie konnte es so weit kommen, dass sich das alles so entwickelt hat?

Irina Scherbakowa: Ich würde sagen, dass Imperium schlägt zurück. Kein Imperium im klassischen Sinne, aber das, was von der Sowjetunion übriggeblieben ist. Und mit einer Mischung aus traditionalistischen Vorstellungen eines russischen Imperiums ist das dabei herausgekommen All diese Stimmungen hat Putin in den letzten zwanzig Jahren unterstützt und ausgenutzt.

Henning Schreiber: Das heißt, so ähnlich wie in Deutschland hat es eine Aufarbeitung in dem Sinne nicht gegeben. Sie haben das ja mit Ihrer Stiftung „Memorial“ gemacht oder machen das ja immer noch. Aber insgesamt ist das in Russland nicht so gelaufen wie in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg, oder?

Irina Scherbakowa: Deutschland wurde besetzt, wurde zerschlagen. Das ist ganz, ganz wichtig. Es gab die Nürnberger Prozesse, das kam sozusagen nicht aus sich heraus.

Es war eine aufgezwungene Geschichte durch die Niederlage. In diesem Sinne kann man das schwer vergleichen. Aber unsere Überlegung in den 90er Jahren war, dass dieser innere Terror in der Sowjetunion besonders stark war. Das war in Deutschland anders. Natürlich gab es sehr viele Opfer aber Hitler hat nicht Millionen eigene Bürger vernichtet. Krieg, Flucht und Vertreibung hat es natürlich gegeben, aber das waren Folgen.

Hitler hat nicht 1,5 Millionen Deutsche ins Lager gesteckt, wie es Stalin 1937 gemacht hat. Und in diesem Sinne haben wir gehofft, dass die Menschen das verinnerlichen werden und dass sie auch verstehen werden, dass dieses System schon zu Breschnews Zeiten morsch war. Ohne Aufarbeitung können keine Reformen beginnen. Wir hatten ein gutes Gefühl, dass die Menschen das verstanden hatten. Aber dann stellte sich heraus, dass das nicht der Fall war.

Es war viel, viel schwieriger. Und dieser Prozess wurde nicht wie in Deutschland durch demokratische Entwicklungen umgesetzt. 10 bis 15 Jahre nach dem Krieg hatten die Deutschen das verinnerlicht, in Verbindung mit einer erfolgreichen Demokratie. Ich spreche jetzt von Westdeutschland. Das muss man immer, glaube ich, auseinanderhalten. Denn in Ostdeutschland verlief dieser Prozess ganz anders. Da sehen wir auch heute noch, dass es große Schwierigkeiten gibt. Und es sind schon viele Jahre vergangen. Man kann sich vorstellen, wie schwierig das in Russland war und ist.

Die Enttäuschung der 90er Jahre war groß, und es gab keine Wiedervereinigung, die für Westdeutschland überwiegend gut lief, in Ostdeutschland aber auch mit Kränkungen. Es lief auch nicht alles schön, so wie man sich das vorgestellt hat. Aber trotzdem, es war kein Vergleich. Die Russen waren im Loch, in diesem wirtschaftlichen Loch. Es war sehr schwierig. Und dann begann man doch diesen unsäglichen Tschetschenienkrieg 1994. Dieser Krieg wurde zum Auslöser von vielen postkolonialen, xenophobischen Vorstellungen. Die Gewalt war zurück. So entstand die Verneinung von Demokratie und Freiheit. Das hat die Gesellschaft soweit gebracht, dass Putin sich behaupten konnte.

Henning Schreiber: Das Ganze gipfelte ja jetzt in den Krieg gegen die Ukraine. Und nach Kriegsbeginn haben Sie Russland auch verlassen und leben jetzt im Exil in Deutschland. Haben Sie momentan noch Kontakt zur Opposition in Russland?

Irina Scherbakowa: Na gut, als Opposition kann man das nicht bezeichnen. Also wenigstens nicht in einem klassischen Sinne dieses Wortes. Denn unter Opposition verstehen wir auch politische Opposition. Und die gibt es in Russland gar nicht. Das sind ja irgendwelche Attrappen, also wie Kommunisten, die immer zustimmen, all dem, was eigentlich vorgeschrieben wird von der Machtpartei, vom „Einheitlichen Russland“. Also in diesem Sinne gibt es keine Opposition.

Aber es gibt natürlich Menschen, die nach wie vor kritisch denken und kritisch zu diesem Krieg stehen und sich sogar auflehnen. Und es gibt kritisches Verhalten in unterschiedlicher Weise gegenüber dem Regime. Es gibt einen Teil, es ist schwer abzuschätzen, wie groß der ist, aber auch aus meinem Kollegen- und Freundeskreis weiß ich, dass es diese Menschen gibt. Die machen sich auch sichtbar zum Beispiel beim Nawalny-Begräbnis. Man ist nicht mit allem einverstanden und zeigt dies. Und es gibt natürlich Menschen, bei denen sich jetzt langsam die Augen öffnen. Die sind vielleicht nicht gegen Regime, aber zumindest gegen die Art und Weise, wie Putin die Menschen behandelt. Und dann gibt es noch die Frauen der Mobilisierten. Diese Frauen und ihre Organisation wurden zu „ausländischen Agenten“ erklärt. Lachen kann man darüber nicht, das ist schon eher tragisch Sie haben sich mit Plakaten vor das Verteidigungsministerium gesetzt. Sie wollten unbedingt mit dem Verteidigungsminister reden. Sie wollen ihre Männer aus dem Krieg zurückholen und werden behandelt wie Volksfeinde. Wenn der Krieg weiter so verlustreich läuft, werden sich diese Stimmen häufen.

Henning Schreiber: Haben sie denn selber Angst, dass ihnen auch etwas passieren könnte oder befürchten sie, dass ihnen etwas zustoßen könnte? Wie lebt man damit?

Irina Scherbakowa: In Deutschland nicht. Seitdem ich im Exil bin, habe ich das Gefühl nicht. Es gibt aber viele Menschen, die Grund haben, sich zu fürchten.

Da sind zum Beispiel Blogger, die im Exil sind, die Millionen von Followern haben. Die sind in Gefahr. Und ich traue unserer Staatssicherheit alles Mögliche zu. Das haben wir mehrmals gesehen, zum Beispiel bei Nawalny.

Aber ich persönlich finde mich nicht so bedeutend, dass man irgendetwas gegen mich konkret unternimmt. Aber Schaden für unsere Organisation, für Memorial, Hacker-Attacken zum Beispiel, das ist alles möglich, das traue ich Ihnen alles zu. Aber physisch und persönlich ist das natürlich eine ganz andere Geschichte, als es in Russland war. Dort hatte ich in den letzten Wochen und Monaten immer wieder das Gefühl, morgens möglichst früh aufstehen zu müssen, da sie meistens früh kommen, mit ihren Durchsuchungen und so. Man muss irgendwie immer bereit sein. Unsere Kollegen, die in Russland geblieben sind, meistens Archivare, also Menschen, die wirklich keine politische Stimme hatten und als Archivare bei uns tätig waren, wurden durchsucht, ihre Computer und Mobiltelefone wurden beschlagnahmt. Mein alter Kollege und Freund, einer der Mitbegründer von Memorial, Oleg Orlow, ist wegen eines Satzes oder eines Artikels in einer französischen Zeitung zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Er ist 71 Jahre alt. Alle, die gegen Putin sind, sind in Gefahr.

Henning Schreiber: Abschließend noch die Frage, die Jahreskampagne oder das Motto der Jahreskampagne der Caritas lautet, Frieden beginnt bei mir. Was müssen wir tun oder was können wir tun, was kann jeder Einzelne tun, damit wir in Frieden leben können?

Irina Scherbakowa: Es gibt zwei Sachen, eine politische und eine gesellschaftliche. In Europa und vor allem in Deutschland hat die Zivilgesellschaft das auch begriffen und verinnerlicht. In Russland ist es anders, da sind die Begriffe, seitdem Putin und sein aggressives Regime an der Macht sind, verdreht: Diejenigen, die jetzt den Frieden beschwören, wollen eigentlich nur Putins Krieg fortsetzen. Ob sie das als eine Illusion wahrnehmen, täuschen oder es mit Absicht machen. Ich befürchte, es gibt Kräfte von ultra-links bis ultra-rechts, die das mit Absicht tun. Das ist das eine.

In diesem Sinne muss alles gemacht werden, um die Ukraine in diesem Krieg zu unterstützen. Alles was eigentlich Putin stört und daran hindert, diesen Krieg zu gewinnen oder ihn weiterzuführen, muss getan werden. Man muss für den Frieden kämpfen, auch mit Waffen. Frieden muss mit Waffen geschaffen werden. So kontrovers und absurd das ist.

Wir sind in einer solchen Situation. Und die andere Geschichte ist eine menschliche und eine innerliche. Wir sind an einem sehr tragischen Punkt in unserer Geschichte angekommen.

Das hat man sich vor zehn Jahren so noch nicht vorstellen können.

Wir leben in einer Demokratie. Gut, in Deutschland mehr, in Russland weniger. Wir haben gedacht, wir hätten das Ende der Geschichte erreicht. Es hat sich herausgestellt, es ist nicht so. Wir sind in großer Gefahr. Man muss versuchen, sich nicht zu verbeißen, nicht alle Provokationen mitzumachen.

Oder, verzeihen Sie mir, wir leben in der Zeit des Klimawandels, wir erleben das jeden Tag. Das ist wirklich eine Gefahr für die Menschlichkeit. Mit diesen Kriegen zerstören wir auch unser Klima. Was Putin da innerhalb von zwei Stunden in die Luft schleudert, das ist ein absoluter Horror. Und ich sehe keine Demos vor der russischen Botschaft wegen der Ökologie. Man hat tausend Quadratkilometer in der Ukraine verseucht. Man hat ein riesiges Kraftwerkgesprengt.

Es ist auch nicht klar, auf wie man das jetzt rauskommt. Beschmiert man Bilder? Ich glaube, das ist ein falscher Kampf für den Frieden. Ich hoffe, dass die meisten Menschen das begreifen werden.

Henning Schreiber: Vielen Dank für das Interview an Irina Scherbakowa. Frieden beginnt bei mir. In der Ukraine und in Russland wird das wohl noch eine ganze Weile dauern. Dieses Thema wird uns auch weiterhin beschäftigen, auch in diesem Podcast. Bis bald, wir hören uns.”

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